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Video: Natur am Boker Kanal
Im August 2023 hat ↗Peter Hoffmann ein schö­nes und infor­ma­ti­ves Video über die Tier­welt am Boker-Heide-Kanal pro­du­ziert, er­gänzt um Unter­wasser­aufnah­men von Peter Ferle­mann.
Unterhalb des Vorschau­bilds finden Sie Wiki­pedia-Links zu den im Video ge­nann­ten Tier­arten sowie eine Tran­skrip­tion zum Video. Das Video ist auf You­tube ver­füg­bar: ein Klick auf das Vor­schau­bild öff­net die You­tube-Seite in einem neuen Browser-Tab.

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Transkription des Audio-Kommentars

Aus dem Naturschutzgebiet Zacharias­see haben wir schon in mehreren Video­filmen be­rich­tet: vom Vogel­zug über das Leben der Libellen oder den Insek­ten auf den Sand­flächen, über Sammler, Jäger und Fallen­steller. Dies­mal schauen wir über die Grenze im Norden: gleich hier be­ginnt ein weite­rer ge­schütz­ter Land­schafts­bestand­teil - so werden Ge­biete be­zeich­net, deren Schutz z.B. als Lebens­stätten be­stimm­ter wild­leben­der Tier- und Pflanzen­arten er­for­der­lich ist, so be­schreibt es das Bundes­natur­schutz­gesetz. An den drei Kanä­len, so heißt das Ge­biet.

Es ist Frühling, das Scharbocks­kraut blüht und die Aurora­falter suchen nach Nektar. In dieser Natur­geschichte soll es um die Ge­wäs­ser gehen, die sich durch den Wald ziehen. Der Name lässt es schon ver­mu­ten, so wie der nahe­gele­gene Zacharias­see ein künst­liches Ge­wäs­ser ist, so sind auch die Kanäle von Men­schen­hand ge­schaf­fen, und das ist hier ganz wirk­lich zu ver­stehen.

Die Idee entstand schon 1834: ein Bewäs­serungs­kanal nörd­lich der Lippe sollte es mög­lich machen, hier Land­wirt­schaft zu be­trei­ben. 15 Jahre spä­ter be­gan­nen die Planun­gen. Eine Genos­sen­schaft wurde ge­grün­det und der preußi­sche Staat ge­neh­migte ein Dar­lehen von 324.000 Mark. Nach drei­jähri­ger Bau­zeit wurde das Kanal­system 1853 in Be­trieb ge­nom­men. Der Größte der drei Kanäle, der Boker-Heide-Kanal, beginnt in Schloss Neu­haus bei Pader­born und führt Lippe-Wasser bis nach Lipp­stadt. Östlich der Stadt wird das Was­ser der Lippe wie­der zuge­führt. Auf der ge­sam­ten Länge von 32 km gab es 16 Stau­wehre und drei Wasser­über­füh­run­gen. Hier tech­ni­sche Zeich­nun­gen dazu. Einige der Bau­werke sind noch er­hal­ten, von ande­ren gibt es noch Reste.

Warum dieser Aufwand? Das Ganze diente der Meliora­tion, einer Ver­besse­rung der Land­schaft im Sinne einer bes­se­ren Be­wirt­schaf­tung. Nördlich der Lippe er­streckte sich von der Senne bei Pader­born bis über Lipp­stadt hinaus eine vor­wie­gend trockene Heide- und Sand­land­schaft. Ein Ge­mälde von Karl Röttgen aus dieser Zeit gibt da­von einen Ein­druck.

Der Lippstädter Biologe Hermann Müller ver­öffent­lichte 1858 eine Über­sicht über die Pflanzen­vielfalt dieser Land­schaft. Er schrieb dazu: Nördlich der Lippe bilden das Heide­land zwischen Lipp­stadt und Cappel die Lipp­städ­ter Heide, das Lipper­bruch und die Boker Heide, bis gegen Del­brück hin ein zusam­men­hängen­des Ganzes, welches in seiner gan­zen Länge von dem Bewäs­serungs­kanal durch­schnit­ten und in seiner bis­heri­gen Exis­tenz be­droht wird. Hermann Müller, seiner Zeit voraus, ahnte welche Fol­gen die zu­nehmen­den Ein­griffe in Natur und Land­schaft für die Arten­viel­falt be­deu­ten wür­den. 165 Jah­re spä­ter geht der Bio­diversi­täts­verlust un­ge­bremst weiter.

1916 geben zwei Zeichnungen der Lipp­städ­ter Male­rin Marie Stein­becker aus einem Kinder­buch einen Ein­druck von den Resten die­ser eigen­tüm­li­chen Land­schaft. Heute be­mühen sich im Natur­schutz­gebiet Zacharias­see die Natur­schüt­zer aus einem kleinen Teil der durch Zu­fall ver­blie­benen Reste der Heide größere Flächen zu ent­wickeln. Einige Arten aus Her­mann Müllers Liste haben sich hier wie­der ange­sie­delt. Der größte Teil aber wird wohl ver­schol­len blei­ben.

Sandabbau, Einsatz von Herbiziden, Gülle und Ma­schinen haben die Land­schaft in nur 50 Jah­ren voll­stän­dig verän­dert. Die Reste der drei Kanäle gibt es noch immer. Ihre Funk­tion als Bewäs­serungs­system haben Sie schon lange nicht mehr, dafür aber be­rei­chern sie als mehr oder weni­ger natur­nahe Ge­wässer­läufe die Land­schaft und sind Lebens­raum einer ganz eigenen Tier­welt.

Mit etwas Glück gibt es hier die Begeg­nung mit einem Eisvogel. Die selt­sams­ten Wesen aber leben hier unter Was­ser. Die Bach­floh­krebse ge­hö­ren zu die­sen Spezia­lis­ten. Ihr seit­lich zu­sam­men­gedrück­ter Körper ist gut an die Strö­mung ange­passt. Bach­floh­krebse brau­chen sauer­stoff­reiches, kühles Was­ser. In stehen­den Ge­wäs­sern wird man sie kaum fin­den. Hier unten in den strö­mungs­armen Lücken unter dem ver­rot­ten­den Fall-Laub finden sie ihre Nah­rung.

Hier unten verbringen auch die Eintags­fliegen den ersten langen Teil ihres Lebens, ein Jahr, und je nach Art auch mehr, ver­brin­gen Sie hier im Was­ser. Am Hinter­leib tragen Sie eine Reihe von Kiemen­blättern, mit denen sie sich fri­sches, sauer­stoff­reiches Was­ser zu­wedeln. Am Ende ihrer Ent­wick­lung und nach zahl­rei­chen Häutun­gen schlüpft das Flug­insekt aus der Larven­hülle, sofort be­reit zur Paarung. Kurz da­rauf ist ihr Leben auch schon be­endet: viel­leicht als Vogel­futter oder in ei­nem Spinnen­netz. Nahrung auf­nehmen können die Eintags­fliegen nach der Ver­wand­lung zum Flug­insekt nicht mehr.

Auch dieses unschein­bare Wesen wird eines Tages mit etwas Glück ein Flug­insekt: Es ist eine Köcher­fliegen­larve. Sie sind Spezia­lis­ten im Tarnen. Je nach Art bauen Sie sich einen schüt­zen­den Köcher aus Sand­körnern, kleinen Zweigen oder wie hier aus Blatt­stück­chen. Damit stei­gen die Chan­cen, dass nicht alle als Fisch­futter enden. Wenn Sie die Larven­zeit über­stan­den haben, ver­wan­deln auch sie sich in ein Flug­insekt. Manche Arten schlüp­fen dazu in den Abend­stunden alle gleich­zei­tig und bil­den dann sol­che Tanz­schwärme, in denen sich die Part­ner zur Paa­rung fin­den.

Und dann lebt hier im Boker-Heide-Kanal noch etwas ganz Beson­de­res. Beson­ders des­halb, weil beson­ders selten und in Nord­rhein-West­falen fast aus­ge­storben: Es ist die kleine Bach­muschel Unio crassus. Es sind nur noch einzelne Rest­vorkom­men be­kannt und eines davon lebt im Boker Kanal. Die genauen Fund­orte werden nicht ver­raten. Diese wirk­lich selte­nen Auf­nahmen zeigen die kleine Bach­muschel in ihrem natür­lichen Lebens­raum. Sie be­nö­ti­gen einen sandi­gen, kiesigen Unter­grund und sauer­stoff­reiches, kühles Was­ser. Der Lipp­städ­ter Taucher Peter Ferle­mann hat diese Auf­nah­men für uns ge­macht. Er be­obach­tet die weni­gen Be­stände seit vielen Jah­ren mit großer Be­sorg­nis.

Und dann die Katastrophe: Am 13. Juni 2018 war das Wasser plötz­lich weg, ohne jede Voran­kündi­gung war der Kanal plötz­lich ohne Wasser und die ge­samte Tier­welt lag auf dem Trocken. Bei sommer­lichen Tempe­ra­tu­ren und sandi­gem Unter­grund waren die letz­ten Pfützen schnell ver­schwun­den. Und die Fische, die sich herge­flüchtet hat­ten, ver­endeten in der Sonne. Der Fisch­reichtum - oder bes­ser der ehe­malige Fisch­reichtum - des Boker-Heide-Kanals hatte dabei alle über­rascht. Während Peter Ferle­mann mit einem Eimer die noch leben­den Bach­muscheln ein­sam­melte, sam­mel­ten andere die noch leben­den Aale und such­ten nach einer Er­klärung.

Die Mitarbeiter des nahe­gelege­nen Wasser­werks leg­ten spon­tan eine Rohr­leitung, um wenig­stens in einem klei­nen Be­reich zu ret­ten, was zu ret­ten war. Am nächs­ten Tag schon war das Was­ser wie­der da, so als wäre nichts ge­we­sen. Für den größ­ten Teil der Tier­welt aber be­reits zu spät.

Was war passiert? Bei Bau­arbeiten an einem 165 Jahre alten Wasser­aquädukt hatte man das Wasser durch zwei Rohr­leitun­gen um die Bau­stelle herum­gelei­tet. Die Verant­wort­lichen des Wasser- und Boden­verban­des Boker Heide äußer­ten sich später im West­falen­blatt dazu: Wir hatten unter­schätzt, dass das Was­ser doppelt so lange braucht, um von Pader­born nach Lipp­stadt zu ge­lan­gen. Wir be­dauern die­sen Stör­fall, sagte der Vor­sit­zende wei­ter. Nach einer kur­zen Unter­brechung lie­fen die Bau­arbei­ten nun aber wei­ter. Auf einer Länge von 27 km war das Ge­wäs­ser nur an einem ein­zi­gen Tag trocken­gefal­len.

Für die Verantwortlichen war das nur eine kurze Stö­rung der Bau­arbei­ten, für die Tier­welt vom Bach­floh­krebs bis zu den Fischen war das der größte anzu­neh­mende Un­fall, eine ökolo­gi­sche Katas­trophe. Wie weit sich die Tier­welt bis heute, 5 Jah­re spä­ter, er­holt hat, wissen wir nicht. Ein kleiner Be­stand der Bach­muschel hat dank des sofor­tigen Ein­grei­fens über­lebt. Ob das aber für die dauer­hafte Exis­tenz einer der letz­ten Popula­tio­nen die­ser Art in Nord­rhein-West­falen reicht, ist zweifel­haft.

Die Blauflügel-Prachtlibellen jeden­falls tan­zen wie­der an den drei Kanä­len in der Sonne. Für diese präch­ti­gen Insek­ten sind diese Ge­wäs­ser der ide­ale Lebens­raum. Der Fluss ist nicht zu groß, das Was­ser klar und sau­ber, an den Ufern gibt es eine dichte Vege­ta­tion.

Die Libellen haben feste Reviere. Es gibt Ri­tuale, bei denen die Gren­zen aus­ge­han­delt wer­den, so scheint es jeden­falls dem Be­obach­ter. Umeinander tan­zen, auf­einan­der zu­fliegen, mit den metal­lisch-blau leuch­ten­den Flügeln impo­nie­ren: das alles er­kennt man erst in der Zeit­lupe. Immer wie­der wer­den kurze Segel­phasen ein­ge­legt. Da­bei erin­nern die Flüge eher an Schmet­ter­linge als an Li­bellen.

Auch die zweite heimische Pracht­libellen-Art hier, die Gebän­derte Pracht­libelle. Diese beiden machen deut­lich, wer sie je­weils sind. Ein aggres­sives Ver­trei­ben aus dem Terri­to­rium des ande­ren sehen wir nicht. Offen­bar be­trach­ten Sie sich nicht als Kon­kurren­ten.

Jetzt geht es darum ein Weibchen auf sich auf­merk­sam zu machen. Man kann sie leicht er­kennen: ihr metal­li­scher Hoch­glanz er­innert eher an polier­tes Kupfer. Ist ein Weib­chen in der Nähe, wird aus dem schmetter­lings­haften Flug ein schnel­les Schwir­ren. Hat das Weib­chen keine Ein­wände, bil­den die Zwei ein für Li­bel­len übli­ches herz­förmi­ges Paarungs­rad. Das Ganze ist nicht so ein­fach wie es aus­sieht. Das Weib­chen über­nimmt mit dem Hinter­leib die Spermien aus einem Samen­behäl­ter gleich hinter dem Brust­teil des Männ­chens. Den hat das Männ­chen vor der Paarung aus seinem Hinter­leib be­füllt. Bei der Ei­ablage hat jede Libellen­art so ihre Eigen­hei­ten. Bei den Pracht­libel­len sucht das Männ­chen einen ge­eigne­ten Platz. Gute Plätze sind stille Buch­ten im Ufer­gebüsch mit ver­rotten­dem, nicht allzu fes­ten Pflanzen­mate­rial. Hier bohrt das Weib­chen die Eier mit einer Art Lege­stachel am hinte­ren Ende in die Pflan­zen­reste. Manch­mal tau­chen sie dabei voll­stän­dig unter Was­ser.

An guten Plätzen versammeln sich gleich mehrere Weib­chen. Die Männ­chen sind wäh­rend der Ei­ablage im­mer in der Nähe. An die­sem eher ge­fähr­li­chen Platz mit star­ker Strö­mung hilft das Männ­chen dem Weib­chen so­gar das Was­ser wie­der zu ver­lassen.

An den drei Kanälen, schattiger Wald und Wasser, Lebens­raum aus zwei­ter Hand, be­lieb­tes Natur­schutz­gebiet auch für Men­schen, ob mit Pferd, Fahr­rad oder zu Fuß. Das bunte Trei­ben am Ufer und unter Was­ser, das fin­det heute wie­der ohne sie statt.

Film und Audio-Kommentar: Peter Hoffmann
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Ein weiterer Naturfilm zeigt die Pflanzen- und Tier­welt der ab 1996 renatu­rier­ten Lippe-Aue.
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