Es ist Frühling, das Scharbockskraut blüht und die Aurorafalter suchen nach Nektar. In dieser Naturgeschichte soll es um die Gewässer gehen, die sich durch den Wald ziehen. Der Name lässt es schon vermuten, so wie der nahegelegene Zachariassee ein künstliches Gewässer ist, so sind auch die Kanäle von Menschenhand geschaffen, und das ist hier ganz wirklich zu verstehen.
Die Idee entstand schon 1834: ein Bewässerungskanal nördlich der Lippe sollte es möglich machen, hier Landwirtschaft zu betreiben. 15 Jahre später begannen die Planungen. Eine Genossenschaft wurde gegründet und der preußische Staat genehmigte ein Darlehen von 324.000 Mark. Nach dreijähriger Bauzeit wurde das Kanalsystem 1853 in Betrieb genommen. Der Größte der drei Kanäle, der Boker-Heide-Kanal, beginnt in Schloss Neuhaus bei Paderborn und führt Lippe-Wasser bis nach Lippstadt. Östlich der Stadt wird das Wasser der Lippe wieder zugeführt. Auf der gesamten Länge von 32 km gab es 16 Stauwehre und drei Wasserüberführungen. Hier technische Zeichnungen dazu. Einige der Bauwerke sind noch erhalten, von anderen gibt es noch Reste.
Warum dieser Aufwand? Das Ganze diente der Melioration, einer Verbesserung der Landschaft im Sinne einer besseren Bewirtschaftung. Nördlich der Lippe erstreckte sich von der Senne bei Paderborn bis über Lippstadt hinaus eine vorwiegend trockene Heide- und Sandlandschaft. Ein Gemälde von Karl Röttgen aus dieser Zeit gibt davon einen Eindruck.
Der Lippstädter Biologe Hermann Müller veröffentlichte 1858 eine Übersicht über die Pflanzenvielfalt dieser Landschaft. Er schrieb dazu: Nördlich der Lippe bilden das Heideland zwischen Lippstadt und Cappel die Lippstädter Heide, das Lipperbruch und die Boker Heide, bis gegen Delbrück hin ein zusammenhängendes Ganzes, welches in seiner ganzen Länge von dem Bewässerungskanal durchschnitten und in seiner bisherigen Existenz bedroht wird. Hermann Müller, seiner Zeit voraus, ahnte welche Folgen die zunehmenden Eingriffe in Natur und Landschaft für die Artenvielfalt bedeuten würden. 165 Jahre später geht der Biodiversitätsverlust ungebremst weiter.
1916 geben zwei Zeichnungen der Lippstädter Malerin Marie Steinbecker aus einem Kinderbuch einen Eindruck von den Resten dieser eigentümlichen Landschaft. Heute bemühen sich im Naturschutzgebiet Zachariassee die Naturschützer aus einem kleinen Teil der durch Zufall verbliebenen Reste der Heide größere Flächen zu entwickeln. Einige Arten aus Hermann Müllers Liste haben sich hier wieder angesiedelt. Der größte Teil aber wird wohl verschollen bleiben.
Sandabbau, Einsatz von Herbiziden, Gülle und Maschinen haben die Landschaft in nur 50 Jahren vollständig verändert. Die Reste der drei Kanäle gibt es noch immer. Ihre Funktion als Bewässerungssystem haben Sie schon lange nicht mehr, dafür aber bereichern sie als mehr oder weniger naturnahe Gewässerläufe die Landschaft und sind Lebensraum einer ganz eigenen Tierwelt.
Mit etwas Glück gibt es hier die Begegnung mit einem Eisvogel. Die seltsamsten Wesen aber leben hier unter Wasser. Die Bachflohkrebse gehören zu diesen Spezialisten. Ihr seitlich zusammengedrückter Körper ist gut an die Strömung angepasst. Bachflohkrebse brauchen sauerstoffreiches, kühles Wasser. In stehenden Gewässern wird man sie kaum finden. Hier unten in den strömungsarmen Lücken unter dem verrottenden Fall-Laub finden sie ihre Nahrung.
Hier unten verbringen auch die Eintagsfliegen den ersten langen Teil ihres Lebens, ein Jahr, und je nach Art auch mehr, verbringen Sie hier im Wasser. Am Hinterleib tragen Sie eine Reihe von Kiemenblättern, mit denen sie sich frisches, sauerstoffreiches Wasser zuwedeln. Am Ende ihrer Entwicklung und nach zahlreichen Häutungen schlüpft das Fluginsekt aus der Larvenhülle, sofort bereit zur Paarung. Kurz darauf ist ihr Leben auch schon beendet: vielleicht als Vogelfutter oder in einem Spinnennetz. Nahrung aufnehmen können die Eintagsfliegen nach der Verwandlung zum Fluginsekt nicht mehr.
Auch dieses unscheinbare Wesen wird eines Tages mit etwas Glück ein Fluginsekt: Es ist eine Köcherfliegenlarve. Sie sind Spezialisten im Tarnen. Je nach Art bauen Sie sich einen schützenden Köcher aus Sandkörnern, kleinen Zweigen oder wie hier aus Blattstückchen. Damit steigen die Chancen, dass nicht alle als Fischfutter enden. Wenn Sie die Larvenzeit überstanden haben, verwandeln auch sie sich in ein Fluginsekt. Manche Arten schlüpfen dazu in den Abendstunden alle gleichzeitig und bilden dann solche Tanzschwärme, in denen sich die Partner zur Paarung finden.
Und dann lebt hier im Boker-Heide-Kanal noch etwas ganz Besonderes. Besonders deshalb, weil besonders selten und in Nordrhein-Westfalen fast ausgestorben: Es ist die kleine Bachmuschel Unio crassus. Es sind nur noch einzelne Restvorkommen bekannt und eines davon lebt im Boker Kanal. Die genauen Fundorte werden nicht verraten. Diese wirklich seltenen Aufnahmen zeigen die kleine Bachmuschel in ihrem natürlichen Lebensraum. Sie benötigen einen sandigen, kiesigen Untergrund und sauerstoffreiches, kühles Wasser. Der Lippstädter Taucher Peter Ferlemann hat diese Aufnahmen für uns gemacht. Er beobachtet die wenigen Bestände seit vielen Jahren mit großer Besorgnis.
Und dann die Katastrophe: Am 13. Juni 2018 war das Wasser plötzlich weg, ohne jede Vorankündigung war der Kanal plötzlich ohne Wasser und die gesamte Tierwelt lag auf dem Trocken. Bei sommerlichen Temperaturen und sandigem Untergrund waren die letzten Pfützen schnell verschwunden. Und die Fische, die sich hergeflüchtet hatten, verendeten in der Sonne. Der Fischreichtum - oder besser der ehemalige Fischreichtum - des Boker-Heide-Kanals hatte dabei alle überrascht. Während Peter Ferlemann mit einem Eimer die noch lebenden Bachmuscheln einsammelte, sammelten andere die noch lebenden Aale und suchten nach einer Erklärung.
Die Mitarbeiter des nahegelegenen Wasserwerks legten spontan eine Rohrleitung, um wenigstens in einem kleinen Bereich zu retten, was zu retten war. Am nächsten Tag schon war das Wasser wieder da, so als wäre nichts gewesen. Für den größten Teil der Tierwelt aber bereits zu spät.
Was war passiert? Bei Bauarbeiten an einem 165 Jahre alten Wasseraquädukt hatte man das Wasser durch zwei Rohrleitungen um die Baustelle herumgeleitet. Die Verantwortlichen des Wasser- und Bodenverbandes Boker Heide äußerten sich später im Westfalenblatt dazu: Wir hatten unterschätzt, dass das Wasser doppelt so lange braucht, um von Paderborn nach Lippstadt zu gelangen. Wir bedauern diesen Störfall, sagte der Vorsitzende weiter. Nach einer kurzen Unterbrechung liefen die Bauarbeiten nun aber weiter. Auf einer Länge von 27 km war das Gewässer nur an einem einzigen Tag trockengefallen.
Für die Verantwortlichen war das nur eine kurze Störung der Bauarbeiten, für die Tierwelt vom Bachflohkrebs bis zu den Fischen war das der größte anzunehmende Unfall, eine ökologische Katastrophe. Wie weit sich die Tierwelt bis heute, 5 Jahre später, erholt hat, wissen wir nicht. Ein kleiner Bestand der Bachmuschel hat dank des sofortigen Eingreifens überlebt. Ob das aber für die dauerhafte Existenz einer der letzten Populationen dieser Art in Nordrhein-Westfalen reicht, ist zweifelhaft.
Die Blauflügel-Prachtlibellen jedenfalls tanzen wieder an den drei Kanälen in der Sonne. Für diese prächtigen Insekten sind diese Gewässer der ideale Lebensraum. Der Fluss ist nicht zu groß, das Wasser klar und sauber, an den Ufern gibt es eine dichte Vegetation.
Die Libellen haben feste Reviere. Es gibt Rituale, bei denen die Grenzen ausgehandelt werden, so scheint es jedenfalls dem Beobachter. Umeinander tanzen, aufeinander zufliegen, mit den metallisch-blau leuchtenden Flügeln imponieren: das alles erkennt man erst in der Zeitlupe. Immer wieder werden kurze Segelphasen eingelegt. Dabei erinnern die Flüge eher an Schmetterlinge als an Libellen.
Auch die zweite heimische Prachtlibellen-Art hier, die Gebänderte Prachtlibelle. Diese beiden machen deutlich, wer sie jeweils sind. Ein aggressives Vertreiben aus dem Territorium des anderen sehen wir nicht. Offenbar betrachten Sie sich nicht als Konkurrenten.
Jetzt geht es darum ein Weibchen auf sich aufmerksam zu machen. Man kann sie leicht erkennen: ihr metallischer Hochglanz erinnert eher an poliertes Kupfer. Ist ein Weibchen in der Nähe, wird aus dem schmetterlingshaften Flug ein schnelles Schwirren. Hat das Weibchen keine Einwände, bilden die Zwei ein für Libellen übliches herzförmiges Paarungsrad. Das Ganze ist nicht so einfach wie es aussieht. Das Weibchen übernimmt mit dem Hinterleib die Spermien aus einem Samenbehälter gleich hinter dem Brustteil des Männchens. Den hat das Männchen vor der Paarung aus seinem Hinterleib befüllt. Bei der Eiablage hat jede Libellenart so ihre Eigenheiten. Bei den Prachtlibellen sucht das Männchen einen geeigneten Platz. Gute Plätze sind stille Buchten im Ufergebüsch mit verrottendem, nicht allzu festen Pflanzenmaterial. Hier bohrt das Weibchen die Eier mit einer Art Legestachel am hinteren Ende in die Pflanzenreste. Manchmal tauchen sie dabei vollständig unter Wasser.
An guten Plätzen versammeln sich gleich mehrere Weibchen. Die Männchen sind während der Eiablage immer in der Nähe. An diesem eher gefährlichen Platz mit starker Strömung hilft das Männchen dem Weibchen sogar das Wasser wieder zu verlassen.
An den drei Kanälen, schattiger Wald und Wasser, Lebensraum aus zweiter Hand, beliebtes Naturschutzgebiet auch für Menschen, ob mit Pferd, Fahrrad oder zu Fuß. Das bunte Treiben am Ufer und unter Wasser, das findet heute wieder ohne sie statt.